Island boomt. Abseits der Ringstrasse spürt der Schriftsteller Joachim B. Schmidt Kleinode auf, die nur dem gemächlich Reisenden zugänglich sind. Er trifft auf kreative Einheimische, eine Elfenburg, eine Mine, hört alte Geschichten, betrachtet goldene Bergflanken und wird von tanzenden Badenixen eingeladen.
Veröffentlicht: 2018
Joachim B. Schmidt
Der Bündner Joachim B. Schmidt arbeitet als Schriftsteller, Journalist und Reiseleiter in Island. Er lebt mit Frau und Kindern in Reykjavík.
Am 4. Juli 1627 war auf dem Bauernhof Hvalnes niemand zu Hause. Zum Glück. Denn wenn algerische Piraten den Hof plündern, ist es besser, man ist nicht da. Danach fielen die Piraten über die weniger glücklichen Bewohner von Berunes und Djúpivogur her, plünderten, mordeten und verschleppten Leute. Es hätte schlimmer kommen können. Aber der berühmte Ostfjordnebel legte sein weisses Gewand auf die verschreckten Isländer, die sich in den Felsen versteckten. Vor Piraten fürchtet sich heute niemand mehr. Aber vor Kreuzfahrtschiffen. Es ist Pfingstmontag in Seyðisfjörður und noch nicht viel los; die Ruhe vor dem Ansturm. 650 Leute leben im schmucken Hafenort, der Dutzende Kreuzfahrtschiffe mit bis zu 2700 Passagieren anlockt. «Ich habe nichts gegen Touristen», klagt die ansässige Künstlerin Hanna. «Aber sie klettern in unsere Gärten und gucken zu den Fenstern rein. Wir sind doch keine Ausstellung!»
Im Mai ist es April
Hanna gehört zu den Initianten, die aus dem serbelnden Fischerort einen Tummelplatz für Künstler machten: Skaftfell, die Zentrale für zeitgenössische Kunst, die Künstlerresidenzen, die Kunstschule LungA und dessen Festival – all das färbt ab. Das Dorf strahlt in seinem künstlerischen Gewand eine neue Anziehungskraft aus. Die Einwohnerzahl wächst. Aber Hanna bleibt dabei. Ich muss ihr sogar versprechen, mit dieser Reportage nur jene auf die Ostfjorde aufmerksam zu machen, die sich auch Zeit nehmen wollen. Die seien nämlich willkommen, versichert sie. Und genau das habe ich selber vor: mir Zeit nehmen. Mich umschauen wie ein Fähnchen im Wind. Schliesslich muss auch das isländische Wetter in die Reiseplanung einkalkuliert werden. Oben auf der Passstrasse nach Seyðisfjörður tanzten eben noch die Hagelkörner auf dem Asphalt. Unten im Hotel Aldan sitzen die Leute auf der Veranda. Auf dem Weg nach Borgarfjörður eystri vermischt sich der Regen mit Schnee. Selbst die Graugans am Strassenrand guckt ganz verwirrt. Ende Mai ist es hier noch immer April.
Grüsse an die Elfenkönigin
In der kleinen Holzkirche von Bakkagerði platze ich mitten in eine Dokumentarfilmproduktion über das Lebenswerk des Jóhannes Kjarval: «Der grösste isländische Maler!», wie Kristjana, Vorsitzende des Kirchenvorstandes, stolz verkündet. Unterdessen rückt der Kameramann Kjarvals berühmtes Altargemälde, das den predigenden Jesus auf einem Felsen zeigt, ins rechte Licht. «Schau mal, Jesus steht auf Álfaborg, der Elfenburg.» Kristjana zeigt zur Kirchentür. «Das ist der Fels direkt vor der Kirche. Dort wohnt die Elfenkönigin Borghildur zusammen mit ihrer Gefolgschaft. Soll ich ihr einen Gruss ausrichten?» «Gerne», stottere ich und frage, ob sie einen guten Draht zu ihr habe. «Jaujaujaujaujau», versichert Kristjana. Tatsächlich trohnt vor der Kirche die Elfenburg. Ich sehe aber nur Fels. Da kann man lange gucken. Das muss so sein, denn hier nennt man die Elfen «das verborgene Volk».
Rülpsende Alpenschneehühner
Hinter dem Felsen erstreckt sich ein malerisches Bergpanorama. Die Gipfel sind zwar in den Wolken verborgen, wachsen aber in meiner Vorstellung noch höher. Ich höre ein Quietschen und drehe mich um. Ein älterer Mann radelt auf einem rostigen Fahrrad daher, kommt plötzlich vom Weg ab, bleibt in der Wiese stehen und hebt eine Wollmütze vom Boden auf. «Die hat wohl jemand verloren», ruft er, schaut sich die Mütze genauer an und ist irgendwie zufrieden mit ihr. Hjálmar heisst der Mann und war mal Fischer. Ein Schlitzohr ist er noch immer. «Früher machten wir oben auf der Elfenburg Silvesterfeuer», erzählt er, und in seinen Augen lodert es. «Das hat man von überall gesehen. Aber heute dürfen wir nicht mehr.» Ob es der Elfenkönigin egal gewesen war, dass man auf ihrem Dach Feuer gemacht habe, will ich von ihm wissen. «Jaujaujaujaujau», sagt er. «Die Tore sind weiter hinten, da, wo die Felsen so flach sind.» Der Wind trägt den gewöhnungsbedürftigen Geruch von zum Trocknen aufgeknüpften Fischköpfen mit sich. Das entfernte Gurren eines Alpenschneehuhns ist zu hören. «Rjúpan rópar!», ruft Hjálmar erfreut. Zu Deutsch: Das Alpenschneehuhn rülpst. «Auch da drüben gibt es einige Vögel.» Hjálmar zeigt zu den Häusern, die aber nicht mehr alle bewohnt sind. Fürwahr. Die Bewohner von Borgarfjörður eystri sind eine vom Aussterben bedrohte Art.
Ein Leuchtturm macht Pause
Im Reyðarfjord gibt es seit der Inbetriebnahme des Aluminiumwerkes keine Existenzängste mehr. Das erkennt man an der Kinderschar, die noch spätabends auf Fahrrädern durch Eskifjörður jagt. Die Boote im Hafen deuten auf eine ergiebige Fangquote. Island, wie man es sich vorstellt. Am Abend: der blaue Himmel. Den sieht man besonders gut, wenn man draussen im Hot Pot liegt. Die verschneiten Zacken der Berge ringsum leuchten in der Abendsonne goldig. An solchen Abenden darf der kleine gelbe Leuchtturm Pause machen. Am nächsten Tag hängt der Himmel schwer über den Fjorden.
«An solchen Abenden darf der kleine gelbe Leuchtturm Pause machen.»
Etwas ausserhalb des Fischerortes Neskaupstaður bläst ein heftiger Wind. Auf dem Meer, wo sich die Winde aus den Nebenfjorden bündeln, sprüht die Gischt. Zurück im Dorf ist es fast windstill. Doch ich staune nicht schlecht, als ich im schwarzen Wasser plötzlich drei Köpfe bemerke. Seehunde? Meerjungfrauen? Nein. Isländerinnen! Aber sie schwimmen gar nicht. Sie entspannen sich im Wasser und quatschen, als sässen sie im Hot Pot. Ich halte den Finger ins Wasser. Zwölf Grad, schätze ich. «Wird euch denn nicht kalt, wenn ihr euch nicht bewegt?» rufe ich den Frauen zu. «Wir tanzen!», klären sie mich auf. «Du siehst es nur nicht.» Die stecken bestimmt in Neoprenanzügen, denke ich, doch dann steigt die jüngste der drei Meerjungfrauen wie Ursula Andress in «Dr. No» aus dem Wasser, graziös, fast meditativ. Die Beine knallrot. Direkt auf mich zu. «Kommst du auch?», fragt sie. «Nein, danke», sage ich und verabschiede mich fluchtartig. Mein Kopf hat dieselbe Farbe wie ihre Beine.
Im Amphitheater der Natur
Sowieso habe ich keine Zeit zum Baden. Eine Bootsfahrt ist geplant. Der Kapitän taucht aber gar nicht auf und lässt mir ausrichten, dass die Fahrt wegen des Wetters ins Wasser fällt. Wenn das ein Kapitän sagt, beschwert man sich nicht. Die Naturgewalten sind ernst zu nehmen. Viele Leben mittelloser Seemänner gingen da draussen verloren. In jedem Fischerdorf gibt es Denkmäler. In Eskifjörður kniet ein Fischer auf dem Sockel, die Hände verzweifelt zum Stossgebet gefaltet. Da bleibe ich lieber auf dem Festland. Auf dem Bauernhof Skorradalur hat man den Boden noch unter den Füssen. Þórður und Guðný haben 45 Pferde, 80 Schafe und 15 Betten. Þórður nimmt mich auf eine Wanderung ins nostalgische Seltal mit.
«Die Naturgewalten sind ernst zu nehmen. Viele Leben mittelloser Seemänner gingen da draussen verloren.»
Die Bergflanken umzingeln uns, als stünden wir in einem gigantischen Amphitheater. Doch es gibt nur Þórður und mich. «Hörst du das?», fragt er und lauscht. «Die Bäche quasseln.» Þórður lacht. Und dann trägt er mir ein Gedicht vor, das der Natur Islands huldigt, denn der Romantiker Þórður ist nicht nur Bauer und Gastgeber, sondern auch Dichter, ob er nun im Gras oder am Küchentisch sitzt. Er spielt ein paar Instrumente und hat eine herrliche Baritonstimme. Þórður war auch mal Lehrer. Und Schuldirektor. Aber in erster Linie ist er Geschichtenerzähler. Er erzählt von Elfen, Trollen und dem Leben in den Fjorden. In drei Sprachen notabene. Und als wir uns verabschieden, bin ich völlig beschwipst von seinen Geschichten und noch am Abend, als ich schon im Bett liege, spielen sich die Szenen vor meinem inneren Auge ab. Da braucht man gar keinen Fernseher mehr. Das flimmert dann von alleine.
Ostfjordler ergreifen die Initiative
Donnerwetter. Die Bewohner dieser Fjorde haben eine Eigenart. Und sie sind ideenreich. Da gibt es zum Beispiel Arna und Denni, die ganz hinten im Fljótstal ihr Wildniszentrum mit unerschöpflicher Liebe zum Detail betreiben. Denni hat eine alte Seele und gehört einfach ins Nirgendwo. Wenn er den Kleinbus über die holprige Naturstrasse jagt, summt er zufrieden. Es gibt Skúli und Elísabet, die im Bauernhof Skriðuklaustur Literatur, Archäologie, Architektur und Kulinarisches auftischen, Eymundur und Eygló, die auf dem Biobetrieb Vallanes, umgeben von einer Million eigenhändig gepflanzter Bäume, Gersten und allerhand Gemüse anbauen und eine warme Umgebung geschaffen haben, die man im kalten Island nicht erwartet hätte; weiter gibt es den Musiker Prins Póló und die Journalistin Berglind, die den abgelegenen Hof Havarí im Berufjord wiederbelebten, vegane Würste produzieren und Konzerte im Heustall veranstalten. Es ist der noch letzte ungeteerte Abschnitt der Ringstrasse, im toten Winkel des Strassenbauamtes. Prins Póló, Berglind und weitere Fjordbewohner stellten ihre Autos quer. Barrikade. Das zeigte Wirkung. Bis 2020 soll auch der Berufjord geteert und damit im 21. Jahrhundert angekommen sein.
«Doch ich staune nicht schlecht, als ich im schwarzen Wasser plötzlich drei Köpfe bemerke.»
An meinem letzten Tag mache ich mich auf die Suche nach einer alten Mine, in der im 19. Jahrhundert Doppelspat abgebaut wurde. Noch heute liegen die einzigartigen Kristalle verstreut in der Mine herum (mitnehmen verboten!). In den Ostfjorden haben die Eiszeitgletscher bis zu 1500 Meter Material abgetragen und ins Meer hinausgeschoben. Dadurch hob sich das Land an, wuchs aus dem Meer wie der Rückenzackenkamm eines riesigen Drachens. So gelangte Tiefgestein an die Oberfläche. In Stöðvarfjörður lebte eine Frau, die Petra hiess und ein ganzes Leben lang Mineralien von den Bergen herunterschleppte. Ihre Steinsammlung ist eine Farbenpracht, die man auf dieser schwarzen Vulkaninsel nicht erwartet hätte.
Der Stollen der Mine ist zwar zugänglich, aber niedrig. Da tropft das Wasser kräftig von der Decke, ein Bächlein rauscht ans Licht. Im Innern eines Berges ist es viel lauter, als man denkt. Draussen ist es stiller. Und heller. Aber jetzt kommt er in den Fjord gekrochen wie das Nichts in Michael Endes unendlicher Geschichte: der Ostfjordnebel. Das Aluminiumwerk auf der anderen Fjordseite ist bald verschwunden. Ebenfalls die alte Walfangstation unten am Wasser sowie der Parkplatz mit dem einzigen Auto; meinem. Es gibt nur noch mich, den Berghang, das Wasser, doch bald bin auch ich der Welt verborgen. Jetzt können sie ruhig kommen, die Piraten.
5 Höhepunkte
- Die Bewohner von Borgarfjörður eystri: neugierig, dichterisch, eigen.
- Das Mittagsbuffet im Skriðuklaustur-Museum: Die Wildpilzsuppe ist ein Traum.
- Die verlassenen Bauernhöfe in den Fjorden: Das schürt die Unternehmungslust.
- Der Flug quer über Island: Die Grösse der Gletscher wird nur von weit oben ersichtlich.
- Die unzähligen Kaskaden-Wasserfälle: weisse Linien im schwarzen Fels.