In den Wochen nach Mittsommer schneiden die Rentierbesitzer ihren Kälbchen nach alter samischer Art als Erkennungszeichen eine Kerbe in den Ohrenrand. Dabei ist der Schrecken für die Jungtiere grösser als der Schmerz.
Franziska Hidber
Redaktorin Nordland-MagazinDer Norden hat das Herz von Franziska Hidber, Redaktorin und Reporterin des Nordland-Magazins, im Sturm erobert. Über dem Polarkreis fühlt sich die «Lapinhulla» (Lapplandverrückte) schon wie daheim.
Es geschieht in einer hellen Sommernacht nach Mittsommer: Dann versammeln sich Rentierzüchter einer Region, meist mit der ganzen Familie und vielen Helfern. Vorher wurden die Tiere auf einen eingezäunten Platz getrieben, früher verwendete man dafür Pferde, heute sind je nach Grösse der Herde auch Autos, Motorräder, Quads, mancherorts gar Helikopter im Einsatz. Für die Kälbchen kommt jetzt der erste Schreckensmoment: Sie werden eingefangen und erhalten ein Nummernschild um den Hals. Kaum freigelassen, suchen die Rentierkinder angstvoll nach ihrer Mutter, oft stossen sie dafür ihre charakteristischen Laute aus. Nun heisst es für die Rentierzüchter, scharf zu beobachten: Welches Kalb drängt sich zu welcher Rentierkuh? Denn noch wissen die Besitzer nicht, welche Kälbchen ihnen gehören, ihre Kühe hingegen erkennen sie selbst aus der Distanz an der Ohrmarkierung. Hat ein Kalb seine Mama gefunden, notiert der Besitzer blitzschnell dessen Nummer. Nach der Kaffeepause wird Kalb für Kalb eingefangen, Nummer für Nummer aufgerufen, und unter dem gestrengen Blick des Vorsitzenden des Rentierzuchtverbands dem Besitzer zugeführt. Ab diesem Moment ist er offiziell für das Tier verantwortlich. Zwar bewegen sich die Rentiere frei in den unendlichen Wäldern Lapplands, dennoch sind es keine Wildtiere: Der Besitzer ist zuständig für ausreichend Futter in strengen Wintern, er behandelt Verletzungen, er entscheidet, welches Tier geschlachtet oder verkauft wird, und ihm gehört der Erlös. Bei der eigentlichen Markierung wird das Kalb von der Familie oder Helfern festgehalten. Der Besitzer schneidet mit einem Messer nach alter Tradition der Samen, den Ureinwohnern Lapplands, schnell das für seine Herde charakteristische «Schnittmuster» in beide Ohrenränder: Auf diese Weise gelingt es auch Aussenstehenden, ein Tier zuzuordnen – zum Beispiel, wenn es angefahren wurde. So traditionell die Markierung verläuft, so modern ist die digitale Datenbank, wo sämtliche Muster registriert sind. Es mag brutal aussehen, wenn plötzlich ein Büschel Ohr auf den Boden fällt, doch das Schneiden ist für die Tiere schmerzfrei – am Ohrenrand verlaufen weder Blut- noch Nervenbahnen. Nach dem erneuten Schrecken rennen die Kälbchen sofort zurück zur Mutter, und kurze Zeit darauf bewegen sie sich wieder frei durch Wiesen, Felder und Wälder. Der zweite Höhepunkt im Rentierjahr folgt mit der Rentierscheidung im Spätherbst: Dann wird entschieden, welche Bullen geschlachtet werden.