Island, wann ist deine schönste Zeit?

Die sagenhafte Insel ruft, zum fünften Mal schon. Nordland-Redaktorin Franziska Hidber steht vor einem Dilemma: Mitternachtssonne oder Nordlichter? An blühenden Lupinenfeldern entlangreiten, im Huskyschlitten durch die weisse Vulkanlandschaft sausen oder im Farbenrausch Beeren pflücken? Eine Gedankenreise durch die Jahreszeiten und ein überraschendes Ende.

Veröffentlicht: 2025

Amor traf am 16. August mitten ins Herz. Ich war mit dem kleinen Passagierfugzeug aus Reykjavík gelandet, wo der Sommer bis in die Nacht hinein gefeiert wurde. Ausgelassen, bunt, fröhlich und vor allem laut. Auf der Landepiste in Akureyri an der Nordküste, direkt neben dem tiefblauen Eyjaförður, Islands längstem Fjord, empfing uns Stille. Die Luft war klar und frisch, sie roch nach Herbst. Die letzten Schneeresten auf den Bergen sahen aus wie knappe, weisse Mützen, das Nachmittagslicht schimmerte spätsommerlich träg und golden zugleich.

Franziska Hidber

Redaktorin Nordland-Magazin

Der Norden hat das Herz von Franziska Hidber, Redaktorin und Reporterin des Nordland-Magazins, im Sturm erobert. Über dem Polarkreis fühlt sich die «Lapinhulla» (Lapplandverrückte) schon wie daheim.

Ich fuhr mit dem Mietauto dem Fluss entlang ins Tal hinein, die Flussläufe zu meiner Rechten glitzerten im Licht, Sonnenstrahlen streichelten die olivfarbenen Bergrücken und die grünen Hügel, und plötzlich trabte eine Gruppe Islandpferde über die einsame Strasse, ihre Mähnen tanzten übermütig im Gegenlicht.

Es war meine erste Reise nach Island überhaupt, in diesem Licht, das vom kommenden Ende des Sommers erzählte. Dabei war es noch warm genug, um im T-Shirt durch die Lavafelder mit ihren bizarren Formen zu streifen, auf den 2500 Jahre alten Pseudokrater Hverall zu steigen, die kühle Gischt des Götterwasserfalls zu geniessen oder die helle Sommernacht am Ufer des Mývatns mit seinen Lavainseln und unzähligen Vogelarten auszukosten.

Für mich war klar: Mitte August ist die beste Reisezeit. – Oder doch nicht?

Drei Monate später kehrte ich zurück. Im November. Der Winter war im Anzug. Die saftig grünen Felder und Hügel zeigten sich in einem warmen Ockerton, eine feine Puderzuckerschicht lag über den Bergflanken, Pseudokratern und dem Hverfjall im Nordosten.

Wo im August noch Biker und Wandergruppen unterwegs waren, staunende Menschen auf die Wasserfälle schauten und Familien vor ihren Campern frühstückten, hat die Stille ihren Platz gefunden. «Die Natur schnauft auf», sagte Kristinn, mein einheimischer Guide. Er ist auf einem Bauernhof in der Gegend von Laugar gross geworden und zeigt Gästen aus aller Welt seine Heimat. Im November holt er seinen Super Jeep nur selten aus der Garage. «Eigentlich schade», bedauerte er, «denn dann hat man die Naturspektakel für sich.»

Tatsächlich. Wir standen zu zweit am rauschenden Götterwasserfall Goðafoss und an der Naturgewalt Dettifoss, wanderten als Einzige durch die dreieinhalb Kilometer lange hufeisenförmige Schlucht Ásbyrgi, den «Canyon Nordislands», wo besonders viele Elfen hausen sollen. Ausser unseren Schritten gab es keine Geräusche, zarte Schneeflocken segelten auf die letzten gelben Birkenblätter, um 15 Uhr flossen die Farben am Himmel ineinander, die Dämmerung kündigte sich bereits an.

Jeden Morgen um neun setzte ich mich in völliger Dunkelheit zu den Einheimischen in den öffentlichen Hot Pot in Laugar. Beim ersten Mal musterten sie mich neugierig, beim zweiten Mal winkten sie mir schon von Weitem zu, beim dritten Mal bekam ich eine Einladung zu Kaffee und Kleina, wie die süsse Nascherei heisst, die mich immer an Schweizer Fasnachtsschenkeli erinnert. «Der November ist ein gemütlicher Monat», sagten sie zufrieden, und ich nickte. So erholt hatte ich mich schon lange nicht mehr gefühlt. Ich revidierte meinen Eindruck vom August.

November ist die beste Reisezeit. – Oder doch nicht?

Als ich das nächste Mal zurückkehrte, Jahre später, war es Februar und Reykjavík versank im Schnee. Die Hallgrímskirkja, das Wahrzeichen der Stadt, sah aus wie in Watte gehüllt, der Schnee klebte an den bunten Fronten der Cafés, Shops und Restaurants, er schluckte jeden Lärm, von den fahrenden Autos war allein ein diskretes Surren zu hören, vermummte Menschen huschten durch die Strassen. Beim Flug quer über die Insel breitete sich unter uns eine Wintermärchenwelt aus: weisse Hügel, Berge und Täler, gefrorene Seen, riesige Gletscher.

Und der Norden hatte abermals ein neues Gesicht erhalten: Die Figuren im Lavafeld Dimmuborgir (übersetzt «dunkle Burgen») trugen dicke Schneekappen, der Mývatn war zum grössten Teil vereist, bei den Wasserfällen hingen mächtige Eiszapfen, vom schwarzen Sand des Hverfjalls war nichts mehr zu sehen. Der Schnee knirschte unter den Füssen beim Aufstieg auf den Tuffring, mit Schneeschuhen zogen wir erste Spuren dem Mývatn entlang, ritten unter rosa Wolken in den Sonnenuntergang hinein, sichteten einen Wal gleich neben dem Boot im Eyjafjörður vor der Insel Hrísey, während die Schneeflocken tanzten. Später am Abend floss das Nordlicht über den Pseudokratern. Geht es noch magischer?

Nein. Deshalb ist der Februar die beste Reisezeit. – Oder doch nicht?

Ich testete den Februar ein zweites Mal, vor einem Jahr – diesmal mit Direktflug ab Zürich nach Nordisland und noch mehr Schnee. Und hätte mich beinahe auf eine dritte Winterreise vorbereitet. Denn die Wikingerinsel ruft bereits wieder. Sie ruft nicht nur, sie lockt, sie säuselt zuckersüss, beharrlich auch. Ich werde dem Ruf folgen, so viel ist klar. Unklar ist nur: Wann? Wann soll meine fünfte Reise auf die wilde Insel stattfinden? Wann ist die schönste Zeit? Wirklich im Winter?

«Kommen Sie im Juni», riet die Hotelmanagerin damals im Februar am Mývatn. «Dann sind die Nächte hell, die Lupinenfelder blühen, die Papageitaucher nisten auf der Insel Lundey vor Húsavík und der grosse Sommeransturm ist noch fern.»

Auch Bryndís Fjóla bricht eine Lanze für den Frühsommer. Bryndís gehört zu den 54 Prozent im Land, die an Elfen glauben. Die hellsichtige Isländerin hat Kontakt zu den Naturwesen und dem huldufólk, dem verborgenen Volk. Sie kann sie fühlen und mit ihnen sprechen und führt Einheimische und Gäste zu den Kraftorten, wo Elfen und die verborgenen Menschen wirken – zum Beispiel im Botanischen Garten in Akureyri. «Im Frühsommer und Sommer, wenn die Natur aufbricht, ist die Energie der Elfen besonders gut spürbar», sagt sie.

Also ist der (Früh-)Sommer die beste Reisezeit. – Oder doch nicht?

Guide Kristinn findet: Jein. Er mag den frühen Herbst am liebsten. Wenn die Luft klar ist und die ersten Nordlichter flackern. Wenn sich vor dem ersten Schnee seine ganze Verwandtschaft und das halbe Dorf einfindet, um dem Bruder, der die elterliche Farm übernommen hat, bei «Réttir» zu helfen. Réttir ist der Schafabtrieb, der inselweit Ende August, Anfang September stattfindet – je nachdem, wie eilig es König Winter hat. «Wir sind stundenlang mit Quads unterwegs, bis alle Schafe wieder im Stall sind. Manchmal schaffen wir es nicht an einem einzigen Tag – vermutlich, weil wir zwischendurch so viele Beeren pflücken und essen», erzählt Kristinn mit einem Grinsen.

Der Spätsommer ist aus einem zweiten Grund sein Favorit. Er ist oft das einzige schneefreie Zeitfenster für die Fahrt an seinen Lieblingsort, den Zentralvulkan Askja nördlich des Vatnajökulls mit dem Víti-Krater und seinem türkis schimmernden Kratersee mitten im Hochland.

Alles klar. Spätsommer ist die beste Zeit! – Oder doch nicht?

Das dachten der Fotograf Roger Lustenberger und seine Partnerin Sandra Sigrist zuerst auch: «Farblich fanden wir die Landschaft in Island im Spätsommer (es war schon sehr herbstlich) spannend, ansprechend und schön.» – Hier schwingt bei den NordenEnthusiasten ein Aber mit, und es gibt tatsächlich eines. Dazu später mehr.

Kein Aber kommt von Joachim B. Schmidt, wenn es um seinen Lieblingsmonat geht. Der Schriftsteller und gebürtige Bündner lebt mit seiner isländischen Frau und den beiden gemeinsamen Kindern seit Jahren in Reykjavík.

Joachim B. Schmidt, Schweizer Schriftsteller in Reykjavík

«Mein Lieblings-Island-Monat ist und bleibt der September.»

«Mein Lieblings-Island-Monat ist und bleibt der September. Die Tage haben trotz tief stehender Sonne noch immer eine angenehme Länge, die Nächte sind aber dunkel genug, um die Nordlichter tanzen zu lassen, die Farben der Vegetation sind kräftiger, die Luft klarer, das Meer blauer – vorausgesetzt, das Wetter ist gut.»

Das spricht nun eindeutig für den Frühherbst als beste Reisezeit. – Oder doch nicht?

Denn in der Luft hängt noch immer dieses «Aber» von Sandra Sigrist und Roger Lustenberger. Ihr Aber, das dem Spätsommer die Nummer 1 streitig macht: «Der grosse Pluspunkt im Winter in Nordisland ist die Ruhe. Selbst an den Hotspots wie Goðafoss oder Hverfjall trafen wir nur auf wenige Menschen, genauso wie in den Geothermalbädern Geosea in Húsavík und Forest Lagoon in Akureyri.

«Im Winter mit den verschneiten Bergen un der weissen Landschaft wirkt Lady Aurora noch magischer.»

Sandra Sigrist und Roger Lustenberger, Norden-Enthusiasten

Im heissen Bad zu liegen, während die Luft kalt und klar ist, und in die Winterlandschaften zu schauen, war für uns etwas Besonderes. Und obwohl wir schon damals im Spätsommer Nordlichter bestaunen durften: Im Winter mit den verschneiten Bergen und der weissen Landschaft wirkt Lady Aurora einfach noch magischer.»

Also doch. Winter! – Eindeutig Winter! Ich werde bald wieder Mütze, Schal und gefütterte Stiefel einpacken. – Oder doch nicht?

Eine letzte Nachfrage. Bei Aline Vocat, sie verantwortet als Produktmanagerin bei Kontiki die Islandreisen. Wann hebt sie selber am liebsten Richtung Nordatlantik ab?

«Ich bin ein absoluter Winter-Fan. Die Tage sind im Februar und März schon wieder länger und man kann so vieles erleben und anschauen. Abends ist es aber genug früh dunkel und man hat tolle Chancen auf Nordlichter. Reisen im Winter ist auch gemütlicher, man nimmt sich mehr Zeit und wartet mal bei Kaffee und Kuchen, bis der Sturm vorbei ist. Und dank unserem Direktflug nach Nordisland kann man den Norden super in einer Woche erkunden.»

Schon wieder Winter. Macht wirklich der Winter das Rennen, nun zum dritten Mal? – Oder doch nicht? Doch nicht.

Die Lupinenfelder, die Papageitaucher und die Mitternachtssonne funken dazwischen. Und die Askja. Das Hochland. Der Schafabtrieb samt Beerenpflückorgien. Die Kombination aus wandern tagsüber und abends im warmen Bad Nordlichter gucken. Gelbe Birkenblätter, roter Floor, ockerfarbene Bergflanken.

Den Winter hebe ich mir für die sechste Reise auf. Für Nummer fünf gilt es jetzt, «nur» noch eine Entscheidung zu treffen. Frühsommer, wenn die Natur so richtig erwacht und es 21 Stunden hell ist – oder Ende August, Anfang September, wenn sich zu den Wasserfällen und heissen Quellen das Farbenbad gesellt?

Ich lasse das Los entscheiden. Los! Es sagt: Reise Nummer fünf wird im Spätsommer stattfinden.

Just in diesem Moment poppt eine Erinnerung auf. Damals, im Flieger auf dem Rückweg vom Norden nach Reykjavík, sass ein Firmeninhaber neben mir. Das Hauptgeschäft betrieb er in der Hauptstadt im Süden, den Ableger im Norden. Jede Woche pendelte er mindestens einmal, öfter zwei-, dreimal quer über die Insel. Ich fragte ihn nach der schönsten Jahreszeit. «Die schönste Jahreszeit?» – Verblüfft schaute er mich an, schüttelte den Kopf. «Die gibt es nicht. Jede ist die Schönste.»

nach oben