Autor Christian Ruch war schon zwölf Mal in Norwegen. Doch als er auf seiner Hurtigruten-Premiere von Bergen nach Kirkenes der Mitternachtssonne entgegenfährt, entdeckt er die Küste neu für sich – von der Reling aus, beim Wikingertanz und beim Wandern.
Christian Ruch
Historiker und JournalistChristian Ruch ist ein grosser Norwegen-Fan und war dort schon 15 Mal. Mit Franziska Hidber schrieb er den Nordkap-Sarganserland-Krimi „Venner“ (Driftwood Verlag, Chur).
Am ersten Abend, vor dem Ablegen in Bergen, bietet die «Polarlys» – ein eindrucksvolles, 1996 gebautes und 2016 neu instand gesetztes Schiff – noch ein wenig das Ambiente eines Kreuzfahrtdampfers. Dazu trägt schon das Check-in-Prozedere bei: Man gibt seinen Koffer ab, bekommt eine Bordkarte und ein Couvert mit Informationen. Und noch beherrschen Touristen mit allen möglichen Muttersprachen die Szenerie. In freudiger, erwartungsvoller Ferienstimmung prosten sie sich mit einem Glas Sekt zu. Erst als die etwas gelasseneren norwegischen Fahrgäste das Schiff betreten, ändert sich die Stimmung, und die «Polarlys» wird mehr und mehr zu dem, was sie und die anderen Schiffe der Hurtigruten in erster Linie sind: eben keine Kreuzfahrtschiffe, sondern wichtige Verkehrsmittel für die norwegischen Küstenregionen.
Auf der Fahrt rücken die Felswände immer näher an die «Polarlys» heran.
Neben den Fahrgästen, die auch ihr Auto verladen können, werden alle möglichen Güter transportiert. Eine Postschifflinie ist die Hurtigruten seit 1984 allerdings nicht mehr. Die ruhige Fahrt der «Polarlys» wiegt mich schnell in den Schlaf. Doch mitten in der Nacht werde ich wach. Geweckt hat mich wohl das helle Licht, das von aussen in meine Kabine dringt. Warum schlafen?, denke ich und gehe an Deck. Und tatsächlich ist es dämmerig, jetzt, um Viertel vor drei Uhr morgens. Das Schiff hat in Florø abgelegt. Verlassen liegt das Deck vor mir, zu sehen ist einzig ein Crew-Mitglied von der Reinigung. Der Zauber dieser Nacht mit ihren Farben zwischen Dunkelblau und Hellrosa ist unbeschreiblich, bis morgens um sechs die Sonne über der Halbinsel Stadlandet aufgeht. Wie ein mahnender Zeigefinger ragt das Vestkapp ins Meer. Mit ihrem wilden Hochland, den sturmumtosten Leuchttürmen und den feinen, fast tropisch anmutenden weissen Sandstränden ist Stadlandet für mich ein magischer Ort. Seefahrer jedoch begegneten ihm wegen der unberechenbaren Strömungen, Winde und Untiefen stets mit grossem Respekt. Darum plant Norwegen nun an der schmalsten Stelle der Halbinsel einen Tunnel für Schiffe(!).
Der «stille Ernst» der Fjorde
Mittlerweile haben sich die ersten Frühaufsteher zu mir gesellt, und spätestens bei der Einfahrt in den Hafen des Jugendstil-Juwels Ålesund sind alle hellwach. Im Sommer unternimmt die Hurtigruten von hier aus einen Abstecher in den Geirangerfjord. Er ist nicht der längste norwegische Fjord, aber der berühmteste. Auf der Fahrt rücken die Felswände immer näher an die «Polarlys» heran und präsentieren sich schliesslich so ehrfurchtgebietend, dass der Philosoph Ludwig Wittgenstein den Fjorden einen «stillen Ernst» attestierte.
So viel Schönheit passt gar nicht in einen einzigen Tag.
Ich fühle mich in diesen Meeresschluchten auf eine eigenartige Weise klein – und doch wunderbar geborgen und geschützt. Am berühmten Aussichtspunkt Ørnesvingen (Adlerkurve) lasse ich den Geirangerfjord auf mich wirken, ebenso die Kühnheit der Trollstigen mit seinen elf Haarnadelkurven. Am Abend denke ich: «So viel Schönheit passt gar nicht in einen einzigen Tag.» Der Vormittag des dritten Tages steht im Zeichen von Trondheim, dem Tor zu Nordnorwegen. Mit dem Nidaros-Dom verfügt Norwegens drittgrösste Stadt über eine Pracht, mit der weder Bergen noch Oslo aufwarten können. Aber auch das pittoreske Quartier dahinter am Fluss Nidelva macht Trondheim sehenswert. Übrigens befindet sich in unmittelbarer Nähe der malerischen Gamle Bybro (Alte Stadtbrücke), der wohl weltweit einzige Aufzug für Velos. Den zu benutzen, setzt aber einen guten Gleichgewichtssinn voraus, denn man sitzt auf dem Velo, während es nach oben gezogen wird. Die nächste Nacht findet mich wieder an Deck statt im Bett. Die «Polarlys» folgt jetzt der Küste von Helgeland. Hier ist Norwegen am schmalsten, nur wenige Kilometer sind es bis zur schwedischen Grenze. Helgeland ist selbst für viele Norwegen-Fans terra incognita, auf dem Weg zu den Lofoten oder ans Nordkap lassen sie es meistens buchstäblich links liegen. Dabei gibt es hier leicht zugängliche Gletscher wie den Svartisen, zu dem auch ein Hurtigruten- Ausflug führt. Die Küstenlinie ist jetzt rauer, nicht mehr so eine bäuerlich-beschauliche Idylle wie in Trøndelag. Den Rücken auftauchender Seeungeheuer gleich ragen die Inseln Lovund und Træna aus dem Meer und kurz vor Sandnessjøen passiert das Schiff die eindrucksvollen Gipfel der Sieben Schwestern.
Tanzen im Wikingerhaus
Vom Meeresgott Njørd anlässlich der Überquerung des Polarkreises mit Eiswürfeln im Nacken und Alkohol im Becher getauft, erreichen wir die Lofoten – jene mystische, an die Alpen erinnernde Bergkette, die aus dem Meer herausragt. Auf ihnen wurden die Reste eines Wikingerhauses freigelegt, das heute als Museum von der geheimnisvollen Geschichte der erst als Räuber gefürchteten und später als Händler, ja sogar Staatengründer geachteten Nordmänner erzählt. Zusammen mit anderen Fahrgästen bin ich an diesem Abend zu einem deftigen Wikinger-Mahl geladen. Der Häuptling und seine Familie erzählen vom Aufbruch zu fremden Gestaden; sie feiern, trinken und tanzen mit uns, ehren aber auch die nordischen Götter Odin, Thor und Freya, auf dass diese den Mut der Wikinger mit reicher Beute belohnen mögen. Denn die Neufundland – keine Meeresüberquerung schienen sie zu fürchten. So, als habe die Enge ihrer Fjorde sie immer wieder die unbekannte Weite suchen lassen. Und im Grunde hielt dieser Drang bis ins 20. Jahrhundert an, als sich Forscher wie Fridtjof Nansen und Roald Amundsen aufmachten, die Polarregionen zu erforschen. Die Reederei der Hurtigruten erweist dieser Tradition ihre Referenz, indem sie zwei neue Schiffe mit zukunftsweisender Technologie nach diesen beiden grossen Forschern benennen wird. Die MS «Roald Amundsen» und die MS «Fridtjof Nansen» werden über einen Hybridmotor verfügen. So wollen die Norweger beweisen, dass Hybridantriebe auch bei grossen Schiffen möglich sind – und Abenteuerreisen in polare Gefilde mit umweltfreundlicher Technik keine Utopie mehr. 2019 sollen beide Schiffe ihren Betrieb aufnehmen.
Wie eine Nabelschnur
Nach den Lofoten habe ich das Gefühl, selbst zum Entdecker zu werden. Denn nun gelange ich in ein mir bis dahin unbekanntes Land. In Tromsø fahren wir Wanderlustigen mit der Seilbahn «Fjellheis» auf den Hausberg Storsteinen. Von dort geht es zu Fuss weiter zum Berg Fløya, wo sich uns ein fantastischer Blick auf die Stadt und das gebirgige Umland bietet. Nach Tromsø ändert sich die Landschaft dramatisch. Eindrucksvoll wirken die Lyngenalpen und die zahllosen zerklüfteten und unbewohnten Inseln. Das Nordkap ist wie ein fast trotziger Schlusspunkt der Zivilisation, ehe die Fahrt an Europas Nordrand entlang endgültig das Gefühl
Das Nordkap ist wie ein trotziger Schlusspunkt der Zivilisation.
der Ultima Thule aufkommen lässt, jenes mythischen Orts am nördlichen Ende der Welt. Immer kleiner und schutzbedürftiger wirken die Häfen, die von der «Polarlys» angesteuert werden, und wie eine Nabelschnur scheint die Hurtigruten das Einzige zu sein, was sie mit der Aussenwelt verbindet. Angesichts der Menschenleere begrüsst man die entgegenkommenden Hurtigruten-Schiffe nun umso begeisterter, und manchmal kommt es mithilfe der Gäste zu einem regelrechten Wettstreit, wer sich nun lauter bemerkbar macht – «vinkekonkurranse» nennen das die Norweger. Doch diese Fahrt ist nicht nur eine Reise in den äussersten Norden des europäischen Festlandes, sondern man bewegt sich auch sehr weit nach Osten. Darauf weisen spätestens die kyrillischen Schilder in Kirkenes, End- und Wendepunkt der Hurtigruten nur 15 Kilometer von der russischen Grenze entfernt und vom Längengrad her östlicher als Istanbul. Bergen, der Ausgangspunkt der Reise, ist dagegen ungefähr auf der Länge von Brüssel. Auf einer Flussfahrt nähere ich mit in einer kleinen Gruppe der russischen Grenze. Wachtürme und Warnschilder machen deutlich, dass dies hier keine normale Grenze ist – und so ist es streng verboten, auch nur einen Fuss über die unsichtbare Linie zwischen den beiden Grenzpfählen zu setzen. Wie anders ist es da an der Grenze nach Finnland, die ich kurz darauf überquere, als ich die Küste verlasse. Damit endet meine erste Hurtigruten-Reise.
Ich habe vom Meer aus ein völlig neues Gesicht entdeckt.
Mein Fazit? Ich habe das Gefühl, vom Meer aus ein völlig neues Gesicht vermeintlich vertrauter Küsten entdeckt zu haben. Je länger ich an Bord war, umso mehr erinnerte mich diese Reise an den Jakobsweg. Bei beiden ist der Weg das Ziel, so abgedroschen diese Formulierung auch sein mag. Beide sind, man verzeihe mir diesen kitschigen Ausdruck, Sehnsuchtswege ans Ende Europas. Im besten Falle wecken sie durch Entschleunigung etwas in uns, das wir im Alltag unserer mitteleuropäischen Hektik wahrzunehmen verlernt haben. Und so hat die Hurtigruten mit dem Jakobsweg wohl noch eins gemeinsam: Sie kann süchtig machen!
5 Höhepunkte
- Die Halbinsel Stadlandet: Norwegens wildes, sturmumtostes Westkap.
- Die Hafenstadt Ålesund: kleines, aber feines Jugendstiljuwel.
- Die drittgrösste norwegische Stadt Trondheim: monumentale mittelalterliche Dombaukunst.
- Helgeland: weitgehend unbekannte Polarkreisregion mit faszinierenden Inseln, Gipfeln und Gletschern.
- Lofoten: zu Gast bei abenteuerlustigen und wagemutigen Wikingern (Hurtigruten-Ausflug).
Hurtigruten - Verkehrsmittel und Ferienziel
Die Hurtigruten wird vielfältig genutzt. Christian Ruch hat bei Gästen an Bord nachgefragt.
Entspannt ans Festival reisen
Bea Levine-Humm und ihr Mann David wohnen in Trondheim. Die Churerin ist vor vielen Jahren nach Norwegen ausgewandert. «Wir fahren fast jeden Sommer mit der Hurtigruten zu einem Konzert- Festival auf die Lofoten», erzählt Bea Levine- Humm. «Dabei verladen wir auch unser Auto und buchen eine Kabine mit Vollpension.» Sie und ihr Mann schätzen vor allem das grandiose Szenario der Landschaft und den ruhigen Rhythmus dieser Art des Reisens. «Ausserdem lassen wir uns immer auch gern kulinarisch verwöhnen.»
Nord- und südwärts viel erleben
Peter und Ency Blattner aus Wetzikon haben sich die Hurtigruten als Ferienziel ausgesucht. Und um möglichst alles kennenzulernen, fahren sie nord- und südwärts. Denn die südwärts gehenden Fahrten erfolgen zeitversetzt, sodass man das zu sehen bekommt, was man nordwärts nachts verschläft. «Die Reise ist sensationell und gefällt uns sehr gut», meint Ency Blattner, «vor allem bei diesem traumhaften Wetter. Ich hätte nicht gedacht, dass es so warm ist und wir so schwitzen.»