Von Nordlichtern, blauen Stunden und harten Kerlen. Unser Autor wagte sich im Winter auf der Hurtigruten über den Polarkreis.
Steven Schneider
Kolumnist und AutorDer Kolumnist und Autor Steven Schneider hat Skandinavien und Island regelmässig und zu allen Jahreszeiten bereist und ist mit der Ururenkelin des ersten königlichen Seidenfabrikanten in Stockholm verheiratet.
«Wie ein Blitz fährt das Leben zurück in die Glieder»
Eingerahmt von einer blauen Dämmerung fliesst ein traumhaftes Land an mir vorbei. Tagelang. Das Gefühl für Zeit und Ort geht verloren, dafür umgarnt mich eine wohlige Trägheit, und weil das grad so schön ist, stelle ich das Denken ein. Meine Seele ruht. Wie im Traum tauchen Bilder vor mir auf und fahren eine Weile mit mir mit: Im Mondlicht schimmern schneebedeckte Gipfel, Silhouetten schwarzer, zerklüfteter Felsen heben sich ab vor einem unendlichen Sternenhimmel, und – öfter, als man glaubt – spiegeln sich die Lichter kleiner und grösserer Dörfer im Meer. Ich bin auf den Hurtigruten, der schönsten Seereise der Welt – und das im Winter.
Im Paradies
Seit 1893 versorgen die Hurtigrutenschiffe die Orte entlang der norwegischen Küste mit dem Lebensnotwendigen – gerade auch dann, wenn Strassen und Flughäfen vereist sind. In den Frachträumen der Postschiffe lagern Medizin, Lebensmittel, Computer, Möbel – eben alles, was es für den Alltag so braucht. Ohne die Hurtigruten gäbe es hier, so weit über dem Polarkreis, vielleicht gar kein Leben. Kirkenes zum Beispiel, die nördlichste Station der 7-tägigen, nordgehenden Reise, ist ein blühendes Städtchen am Ende der Welt. Und nicht zuletzt dank der täglichen Besuche der Postschiffe auch ein begehrter Wohnort, obschon es im Winter gerade mal von halb zehn Uhr morgens bis kurz nach zwölf Uhr mittags richtig hell ist.
Kann sein, dass wir Mitteleuropäer unsere liebe Mühe damit hätten. Für Ole, dem ich bei der Einschiffung in Kirkenes begegne und der hier geboren ist, ist es keines. Im Gegenteil. «Ich habe überall in Europa gearbeitet», sagt er, «aber hier ist es am schönsten. Die Naturgewalten hier sind einmalig. Nur wer hier lebt kann verstehen, welche Faszination die entfesselten Kräfte der Natur, aber auch die ohrenbetäubende Stille nach dem Sturm auslösen.» Wenn er frei hat, fährt er mit dem Schneemobil in seine Jagdhütte, irgendwo in die menschenleere Wildnis zwischen Eismeer, Russland und Norwegen. Und im Sommer, ja, da ist es dann 24 Stunden hell – das Paradies kann nicht schöner sein.
Schwerelosigkeit
Ich ziehe warme Kleider an und gehe über das Aussendeck nach vorne zum Bug. Eine knackig kalte Brise bläst mir ins Gesicht, als die «Richard With» Fahrt aufnimmt. Ich schmecke die salzige Seeluft auf den Lippen und denke mir: Dass man existiert, spürt man am intensivsten, wenn die Umstände extrem sind. Weht hier der Wind, dann in Orkanstärke, ist es hier kalt, dann gefriert alles, die lange Winternacht und der nicht mehr endende Tag im Sommer verlangen enorme Anpassungskräfte. Wer hier sein Dorf Richtung Tundra verlässt oder mit dem Boot aufs Meer hinaus fährt, muss sich auf sich selbst verlassen können. Aber die Menschen, die hierher kamen, haben gelernt, damit zu leben. Und dann begannen sie, ihr Land zu lieben. Der Mond legt ein glitzerndes Band aufs Meer. Ich kriege Lust auf einen Kaffee, gehe in meine Kabine, lege Jacke und dicken Pulli ab, ziehe leichtere Schuhe an und gehe zur Bar. Mit meiner Thermostasse und meinem skandinavischen Krimi steige ich die Treppe hinauf zum Deck 7 mit den gigantischen Panoramafenstern und setze mich in einen Sessel. Einige Meter von mir entfernt spielen eine junge Frau und ihre Mutter Karten, auf der anderen Seite des Raumes unterhalten sich zwei Deutsche im Flüsterton. Es dauert nur wenige Minuten, bis mich die Ruhe wieder eingeholt hat. Ich mache es mir im Sessel bequem, trinke in aller Ruhe den Kaffee zu Ende. Dann frage ich mich, ob ich ein wenig lesen oder doch lieber ein bisschen dösen soll. Ein weiterer stiller Moment der Ewigkeit kündigt sich an, und ich ertappe mich beim Wunsch, dass dieser schwerelose Zustand ganz lange andauern möge. Zu schön ist er, und ich weiss: Es gibt nichts, was ich jetzt noch zusätzlich bräuchte. Ich bin einfach nur zufrieden. Da ertönt über den Bordlautsprecher plötzlich eine Stimme.
Mit dem Herzen schauen «Meine Damen und Herren…» setzt Hans, unser Reiseleiter an Bord, an. Dann sagt er zuerst auf Norwegisch, dann in Englisch und zum Schluss auf Deutsch: «Wenn Sie jetzt an Deck gehen, können Sie am Heck ein Nordlicht sehen.»Ein Nordlicht!
Dann ist alles in blaues Licht getaucht: das Meer, die schneebedeckten Gipfel, der weite Himmel.
Mit dem Herzen schauen
«Meine Damen und Herren…» setzt Hans, unser Reiseleiter an Bord, an. Dann sagt er zuerst auf Norwegisch, dann in Englisch und zum Schluss auf Deutsch: «Wenn Sie jetzt an Deck gehen, können Sie am Heck ein Nordlicht sehen.»
Ein Nordlicht!
Wie ein Blitz fährt das Leben zurück in die Glieder. Ein Nordlicht! An sich nichts weiter als elektrischer Sonnenstaub, der auf das terrestrische Magnetfeld prallt und in grünes, gelbes, blaues, violettes oder rotes Licht umgewandelt wird. Aber einer der Hauptgründe, warum Menschen aus allen Teilen der Welt im tiefsten Winter in den höchsten Norden nach Norwegen reisen.
Die Durchsage löst Betrieb aus. Auch bei mir. Ich beende den Meditationsmodus, mein Jagdtrieb ist geweckt. Aus den Kabinen, Cafés und Aufenthaltsräumen strömen die Passagiere hinaus aufs Deck. Eine 50-köpfige amerikanische Reisegruppe, die junge Frau mit ihrer Mutter, zwei Freundinnen aus Wales, drei Ostdeutsche, ein italienisches Pärchen aus Genua und einige mehr.
Doch die Begeisterung hält sich in Grenzen: Es gibt spektakulärere Nordlichter als das, was wir gerade sehen. Nichts von grünem, waberndem Vorhang, dann schon eher ein weiss schimmernder Bogen, der sich über das gesamte Firmament spannt. «Nordlichter können sich entwickeln», hat Hans bei früherer Gelegenheit gesagt. «Doch nicht alle haben die Musse, darauf zu warten. Reife Herren mit massigen Spiegelreflexkameras gehen in die Knie, um das Nordlicht zu fotografieren, das noch kein wirkliches Nordlicht ist – nur um danach kopfschüttelnd das schwarze Display zu betrachten. Man möchte sie fragen, ob sie den Zettel am Anschlagbrett bei der Rezeption nicht gelesen haben, auf dem steht: «Erleben Sie die Schönheit des Nordlichts zuerst mit Ihren Augen und Ihrem Herzen, bevor Sie es durch den Sucher Ihrer Kamera tun.»
Ich beschliesse, dem Himmel für die Vorbereitung seines Lichtspektakels ein bisschen Zeit zu lassen, und gehe zu Hans an die Rezeption im Schiffsbauch. Da im Winter viel weniger Passagiere an Bord sind als im Sommer, kennt er mich bereits persönlich. «Nur Geduld», sagt er lächelnd, als er mich sieht. «Und falls sich dieses Nordlicht doch nicht entwickelt, dann eben das nächste.» Er muss es wissen, fährt er doch schon sechs Jahre auf der Hurtigruten. Ob er denn die atemberaubende Schönheit der Fjorde nach so vielen Passagen überhaupt noch wahrnehmen würde, frage ich ihn. Hans grinst: «Unsere Passagiere versichern mir ausnahmslos, wie fantastisch diese Küste ist, da muss ich gar nicht mehr hinsehen.»
Er nicht, denke ich, aber ich schon. Ich verabschiede mich von Hans und gehe zurück auf Deck. Mal sehen, was das Nordlicht macht. Und wenn es nichts macht, schaue ich mir die Küste an. Habe ich übrigens schon gesagt, wie fantastisch diese ist?