Am 78. nördlichen Breitengrad bleibt die Sonne über drei Monate unter dem Horizont. Doch die Polarnacht hat es in sich, nicht nur wegen der Nordlichter: Der Ostschweizer Simon Dudle erlebte um die Mittagszeit einen magisch roten Himmel – ein seltenes Phänomen.
Franziska Hidber
Redaktorin Nordland-MagazinDer Norden hat das Herz von Franziska Hidber, Redaktorin und Reporterin des Nordland-Magazins, im Sturm erobert. Über dem Polarkreis fühlt sich die «Lapinhulla» (Lapplandverrückte) schon wie daheim.
Am 26. Oktober verabschiedet sich die Sonne auf dem norwegischen Inselarchipel – bis am 15. Februar. Wenigstens steht es so im Kalender. In Longyearbyen, der Hauptstadt von Spitzbergen mit rund 2500 Einwohnern, müssen die Sonnenstrahlen es erst über die Berge schaffen, und das dauert etwas länger: bis am 8. März.
Um Weihnachten herum, zur Wintersonnenwende, wird es gar nicht mehr hell – dann bleibt die Sonne unter dem Horizont. Wer kommt schon auf die Idee, mitten im Polarwinter in die Dunkelheit zu reisen? Der Ostschweizer Simon Dudle zum Beispiel. «Nur schon der Flug zur Mittagszeit nach Longyearbyen ist einzigartig: Mit jedem Kilometer, den man nordwärts fliegt, wird es dunkler und dunkler – richtig surreal», schwärmt er. Wobei ihn an seiner zweiten Reise zur Weihnachtszeit am meisten überrascht habe, «dass es eben gar nicht immer ganz dunkel ist».
Mystische Rotfärbung
Dudle ist ein Wiederholungstäter: Schon vor drei Jahren verbrachte der Journalist seine Weihnachtsferien auf Spitzbergen. Dieses Mal sei es anders gewesen: «Bei meinem ersten Besuch ist es tagsüber komplett dunkel geblieben, selbst zur Mittagszeit. Im vergangenen Winter jedoch schien die Dämmerung an einigen Tagen um den Mittag herum einzusetzen, der Himmel leuchtete in einem roten Farbton. Das war unglaublich mystisch!»
Wer wie Dudle Zeuge dieses Farbenspektakels wird, hat Glück. Die Rotfärbung kommt nämlich selten vor: «Es müssen viele Faktoren zusammenkommen», weiss Dudle. In seiner ausführlichen Reportage für die «Schweiz am Wochenende» vergleicht er Polarwinter auf Spitzbergen – bunter als gedacht Die rote Polarnacht das Phänomen mit dem Morgenrot in der Schweiz: «Auf dem langen Weg durch die Atmosphäre werden alle Anteile des Lichts weggestreut, bis nur noch Rot übrig bleibt.»
Polare Stratosphärenwolken
Weshalb – anders als in der Schweiz – auf Spitzbergen die Rotfärbung nicht in den Wolken betrachtet werden kann, erklärt SRF-Meterologe Christoph Siegrist in der besagten Reportage: «Die Sonne steht selbst am Mittag so tief unter dem Horizont, dass auch die höchsten Wolken in der Wetterschicht auf neun Kilometern Höhe nie von der Sonne angeschienen werden. Damit man das rote Licht dennoch sieht, braucht es selten vorkommende polare Stratosphärenwolken, diese befinden sich über der Wetterschicht auf 20 bis 25 Kilometern Höhe.»
Mindestens minus 78 Grad müssen dort oben herrschen, damit sich diese Wolken überhaupt bilden können. Und erst wenn sie das in zwei Gebieten zwischen dem norwegischen Festland und der Inselgruppe tun, kommt man in den Genuss des «Mittagrots».
Nordlichter Tag und Nacht
Zur Buntheit der Polarnacht tragen auch die Nordlichter bei: Sie können auf Spitzbergen bei klarem Himmel und ausreichend Sonnenaktivität tagsüber genau so wie nachts betrachtet werden, durchgehende Dunkelheit sei Dank. Schon öfter ist in einem der nördlichsten bewohnten Gebiete der Welt der Vorschlag gefallen, doch einfach die Nacht mit dem Tag zu tauschen, da es nachts «viel heller» sei.
Und eine junge Norwegerin gab einst dem «Deutschlandfunk» zu Protokoll, dass sie die Polarnacht auf Spitzbergen regelrecht liebe: «Sie ist so lauschig nach den langen Sommern. In der Dunkelheit kann dein Körper endlich Pause machen. Und wenn der Mond hinter den Bergen aufgeht, ist das schöner als jeder Sonnenaufgang. Dann schimmern die Berge in einem silbernen Licht.»
Auch Wiederholungstäter Dudle hat noch lange nicht genug: «Selbst wenn ich mir es vor meiner ersten Reise nicht hätte vorstellen können: Ja, ich werde Spitzbergen wieder während der Polarnacht besuchen.»
Polarnacht und Polartag
Mit Polarnacht wird jener Zeitraum rund um die Wintersonnenwende am 21. Dezember in den Polargebieten umschrieben, in der die Sonne unter dem Horizont steht und nicht direkt zu sehen ist. Wie lange die Polarnacht anhält, ist abhängig von der Entfernung zu den Polen. Direkt am geografischen Nord- und Südpol dauert die Polarnacht sechs Monate – und der Polartag ebenso: Die Sonne geht im Jahr genau einmal auf und unter. An den Randgebieten der Polarzone, zum Beispiel am Nordkap, gibt es eine kurze Mittagsdämmerung, «blå time» genannt. Im Gegenzug zur Polarnacht geht die Sonne während des Polartages um die Sommersonnenwende (21. Juni) in den Polargebieten nicht unter – sie bleibt auch nachts über dem Horizont.
5 Fakten über Spitzbergen
- Die Distanz zum Nordpol beträgt 900 Kilometer, jene zum norwegischen Festland 1300.
- Wer die Hauptstadt Longyearbyen auf eigene Faust verlässt, betritt das Gebiet der streng geschützten Eisbären und braucht zu seinem Schutz ein Gewehr.
- 2500 Einwohnerinnen und Einwohner aus 40 Nationen leben und arbeiten auf dem norwegischen Archipel mit über 400 Inseln und Schären, es gibt keine «Alteingesessenen».
- Zum Gebären und Sterben werden die Menschen aufs Festland geflogen, Beerdigungen sind auf Spitzbergen nicht möglich.
- Die durchschnittliche Jahrestemperatur bewegt sich um minus 7 Grad.