Sie gehören zu Island wie die Vulkane, Gletscher und die gigantischen Wasserfälle: die Elfen und das «Huldufólk», das verborgene Volk. Sie sind überall und nirgends und bestimmen das Leben auf der Insel mit. Eine zauberhafte Spurensuche mit überraschendem Ausgang.
Veröffentlicht: 2015
Franziska Hidber
Redaktorin Nordland-MagazinDer Norden hat das Herz von Franziska Hidber, Redaktorin und Reporterin des Nordland-Magazins, im Sturm erobert. Über dem Polarkreis fühlt sich die «Lapinhulla» (Lapplandverrückte) schon wie daheim.
Die Eisenstange ragt noch immer aus dem Felsen, seit 1920. Damals machten sich Arbeiter daran, den Stein zu zersplittern, um Platz für ein Haus zu schaffen. Wie gewohnt plauderten und scherzten sie dabei, doch sie verstummten schnell. Irgendetwas stimmte hier nicht. Kein Brocken löste sich vom Stein, nicht der kleinste. Sie schüttelten irritiert den Kopf, arbeiteten verbissen weiter, kraftvoll und schnell. Plötzlich ein Aufschrei: eine Stange verschwand im Innern des Steins. Dann noch eine und noch eine, schliesslich eine bis zur Hälfte. Entsetzt starrten die Arbeiter auf ihre leeren Hände. Was ging hier vor? In diesem Moment kam ein alter Einheimischer die Strasse runter, nickte wissend und rief ihnen zu: «Hört auf, hier wohnen Elfen. Ihr geht jetzt besser.» Die Arbeiter sahen sich verblüfft an und zogen dann unverrichteter Dinge ab. «Seither hat sich niemand mehr an diesem Elfenstein zu schaffen gemacht», schliesst Geschichtenerzählerin und Elfenstadtführerin Sigurbjörg Karlsdóttir, die von allen Sibba genannt wird, ihre Erzählung.
«Sibba, glaubst du an Elfen?»
«Natürlich.»
«Wie zeigt sich das?»
«Ich fühle ihre Energie, ich spreche mit ihnen.»
«Woher kommt dein Glaube?»
«Aus meiner Kindheit. Mein Onkel spielte mit den Elfen, er hat mir viel von ihnen erzählt.»
«Kannst du die Elfen sehen?»
«Nein, ich bin kein Elfenmedium. Hellsichtig zu sein, ist ein Geschenk – man bekommt es bei der Geburt oder eben nicht.»
Wir stehen am gleichen Ort wie die Arbeiter vor bald 100 Jahren – in einem Wohnquartier in Hafnarfjörður, dem Lavastädtchen 15 Kilometer südlich von Reykjavík. 27 000 Menschen leben hier in der drittgrössten Stadt Islands am Rand des riesigen Lavafeldes. Blaue, gelbe, rote, weisse und grüne Häuschen schmiegen sich an den Hang – ein hübscher Kontrast zu den bizarren schwarzen Lavafelsen in fast jedem Garten. Unten am Hafen kreisen die Möwen, das Meer liegt faul und schlaftrunken da in dieser frühen Stunde, der Wind frischt auf. Sibba zieht ihre rote Mütze ins Gesicht und öffnet die «Karte der verborgenen Welten»: «Willkommen in der Elfenstadt», sagt sie dann, «hier wohnen besonders viele Elfen und Naturgeister.» Auf dem «anderen Stadtplan» markieren farbige Punkte, wo Zwerge, Lichtelfen, Elfenwesen oder Huldren, das verborgene Volk, wohnen und wirken, wo die Elfenkirchen stehen und wo selbst die Elfenkönigin ihren Palast hat.
Offizielle Elfenschützerin
Erla Stefansdóttir, Islands Elfenbeauftragte, hat die Karte gezeichnet. Die Klavierlehrerin ist ein Elfenmedium, schon als Kind nahm sie Kontakt mit Elfen und all den anderen Naturwesen aus der Zwischenwelt auf. Heute ist sie offiziell beim Bauamt in Reykjavík angestellt. Ihr Job ist weltweit einzigartig: Erla schützt die Wirkungsstätten der Elfen. Wenn aus zwei Fahrspuren plötzlich eine werden, weil ein bewohnter Elfenfelsen in die Strasse hineinragt – wie zum Beispiel beim Alfhólsvegur, dem Elfenhügelweg in Reykjavíks Vorstadt Kópavogur – hatte Erla ihre Hände im Spiel. «Die Elfen sind freundlich und hilfsbereit, sofern man ihre Häuser und Kirchen in Ruhe lässt», sagt Sibba. Heute noch kursieren stets neue Geschichten von streikenden Maschinen oder Unglücksfällen auf Baustellen rund um Elfensteine, die entfernt werden sollten.
Sibba deutet auf ein hellblaues Haus, das verwegen nah an einen grossen Lavastein gebaut wurde: «Der Eigentümer konnte mit den Elfen kommunizieren. Sie erlaubten ihm, ihren Stein für sein Haus ein Stück weit abzubrechen.» Etwas weiter vorne hat ein Bewohner vier Kaffeetassen für die Elfen an den Baum gehängt. Darüber wundert sich hier niemand. Nur 10 Prozent der Isländer glauben nicht an Elfen. 54 Prozent sind überzeugt, dass es die magischen Wesen gibt. Und 36 Prozent halten deren Existenz immerhin für möglich. Als eine Journalistin aus Kanada nach Personen suchte, die einen Stein zertrümmern sollten, in dem angeblich Elfen wohnen, biss sie auf Granit. Dazu war in Island niemand bereit, gar niemand. Warum ist das so?
Ich packe diese Frage samt dem etwas anderen Stadtplan ein und fahre ins Industriequartier von Reykjavík. Ausgerechnet hier, zwischen Computer- und Möbelgeschäften und einer Autogarage, befindet sich das Domizil der Elfenschule. Inmitten von buntkitschigen Nippes – Steintrollen, Stoffelfen und Zwergen in allen Grössen – sitzt Schulleiter Magnus H. Skarphedinsson am Empfang und begrüsst Ankömmlinge mit seinem dröhnenden Lachen. Der Historiker gilt als profunder Elfenkenner, nun plant er ein Elfenmuseum.
«Magnus, glaubst du an Elfen?»
«Auf jeden Fall.»
«Warum?»
«Meine Grossmutter erzählte mir, wie sie als Kind mit Elfenkindern spielte. Damit wuchs ich auf.»
«Du sammelst und katalogisierst Geschichten über Elfen und das verborgene Volk. Stimmt es, was die Leute dir erzählen?»
«Ich hab rund 1000 Gespräche geführt, eher mehr. Man entwickelt ein Gespür dafür, ob die Menschen die Wahrheit sagen.»
«Warum braucht es diese Sammlung?»
«Elfen und das verborgene Volk sind Teil der isländischen Kulturgeschichte, sie sind Teil unserer Identität. Ich erachte es als meinen Auftrag, diese Kultur zu bewahren.»
«Kannst du die Elfen sehen?»
«Nein. Aber ich spüre, dass da mehr ist, als wir beweisen können.»
Du hast keine Beweise
Im Schulungsraum sitzt bereits eine Gruppe Pfadfinder aus England. Ihr Raunen und Scherzen verstummt urplötzlich, als Magnus mit seiner tiefen Stimme zu erzählen beginnt. Von jenem Jungen, der in einer stürmischen Winternacht den Heimweg nicht mehr fand und vom verborgenen Volk liebevoll aufgenommen und bekocht wurde. Als der Bub – satt von einem nahrhaften Frühstück und in trockenen Kleidern – nach Hause kam, fragte seine Familie, wo er die Nacht verbracht habe. «Kommt mit!», rief der Junge eifrig und wollte ihnen die geheimnisvolle und gastfreundliche Farm zeigen. Sie folgten also seinen Spuren im Schnee, aber diese endeten urplötzlich. Es war auch weit und breit kein Bauernhof zu sehen. Und doch – es gab das Essen, die warmen Kleider.
Magnus räuspert sich: «Die Hilfe kam vom verborgenen Volk.» Es ist still im Raum. «Aber du hast keine Beweise», ruft David, einer der Pfadfinder. Er klingt fast schon trotzig. Magnus schickt ihn in den Nebenraum, um einen weissen Kochtopf zu holen. «Das ist ein Geschenk von einer Elfe.»
Und schon setzt er an zur nächsten Geschichte: Von jener Familie, die in ihr Sommerhaus im Norden zog, weit weg vom Schuss, so abgelegen, wie es eben in Island möglich ist. Am neuen Ort bemerkten sie, dass sie keine Pfannen mitgebracht hatten. Was tun in diesem Niemandsland, ohne Einkaufsladen, ohne Nachbarn in der Nähe? Und dann sei plötzlich dieser Topf auf dem Tisch in der Küche gestanden. «Die Familie hat ihn vorher noch nie gesehen», schliesst Magnus und gibt die weisse Pfanne reihum. Die Pfadfinder bestaunen sie ehrfürchtig. Auch der Topf soll im Museum ausgestellt werden.
«Es gibt einen einzigen Grund, weshalb Elfen und Naturgeister bei uns sehr viel stärker verwurzelt sind als anderswo, und das ist die Epoche der Aufklärung. Sie hat Island später erreicht als alle anderen Länder», führt der ehemalige Hochschuldozent aus. Allerdings habe die Aufklärung dann den tiefen Glauben an die Zwischenwelt zerstört – zumindest ein Stück weit. Denn in Island kenne jeder jemanden mit persönlichen Erfahrungen mit Elfen oder dem verborgenen Volk. «Das ist der grosse Unterschied», glaubt Magnus. Etwas aber konnte selbst Elfenspezialist Magnus nicht beantworten: Wie ist es, mit den Elfen zu kommunizieren?
Das Naturwunder unter mir
Ich nehme die Frage und mein frisch erworbenes Elfendiplom und fliege in den Norden, nach Akureyri. Unter mir breitet sich ein gigantisches Naturwunder aus: zuerst das Meer, die Lavafelder, dunkle Berge; dann kleine Seen in Kratern, dampfende Quellen, Hügel, Wasserfälle; schliesslich Schnee, Schneeberge, Gletscher. Auf der Passfahrt Richtung Mývatn-Gebiet wähne ich mich im Engadin, so bezaubernd ist das Licht. Hoch und höher hinauf windet sich die Ringstrasse, bevor sie wieder ins Tal führt, rechts stürzt der Godafoss mit seinen riesigen Wassermengen in die Tiefen und schliesslich bin ich in Laugar. Das beschauliche Örtchen liegt eingebettet zwischen zwei Hügeln auf dem Weg zum Mývatn-Gebiet. Im Gästehaus North Aurora treffe ich Bryndis Pétrusdóttir. Zusammen mit vier weiteren Gästen steigen wir den Hügel hoch zum nahen Elfenstein.
«Bryndis, glaubst du an Elfen?»
«Sicher. Sie sind ein Teil meines Lebens.»
«Wie macht sich das bemerkbar?»
«Ich stehe in Verbindung mit ihnen, spüre ihre heilende Energie. Ich bitte sie – auch im Auftrag von anderen Leuten – um Hilfe.»
«Wie muss man sich das vorstellen?»
«Ich schildere ihnen das Problem, beschreibe die Person, die es betrifft.»
«Wann hast du bemerkt, dass du einen Zugang zu den Elfen und zum verborgenen Volk hast?»
«Schon als Kind hatte ich einen Elfenfreund, der mit mir lebte. Ausser mir konnte niemand ihn sehen. Da spürte ich, dass ich Dinge sehe und fühle, die für andere nicht wahrnehmbar sind.»
Hier ist schon viel passiert
Der Findling leuchtet mitten auf der Wiese im Abendlicht. «Das ist ein gewöhnlicher Stein», sagt Bryndis. «Aber er steckt voller Energie, wie ein heilendes Kraftfeld. Die Elfen bauen diese Energie auf.» Sie empfiehlt uns, die Hände auf den Stein zu legen. Einige aus der kleinen Gruppe schliessen die Augen. «Hier ist schon viel passiert», sagt Bryndis nach ein paar Minuten. «Manche Leute haben danach Antworten auf ihre Fragen erhalten oder endlich einen Entscheid fällen können.»
Für Bryndis sind die Elfen «ein Teil des Wow-Effekts von Island». Dabei geht sie noch einen Schritt weiter als Magnus und Sibba. Klar, auch sie will die Kultur Islands erhalten. «Aber das genügt nicht. Wenn wir die Elfen nicht in unser Leben integrieren, wenn wir sie nicht schützen – und das heisst auch, die Natur zu schützen – dann wird Island viel von seiner Energie verlieren.» In ihrem Gästehaus kann die vierfache Mutter ihre Vision leben und weitergeben. Sie backt das Brot selber, serviert hausgemachte Konfitüre und rein biologischen Orangensaft. Balance ist es, was Bryndis anstrebt – im Einklang mit den Elfen. Als sich die Dämmerung wie ein flauschiger rosa Bademantel über den Hügel legt, machen wir uns an den kurzen Abstieg. Am nächsten Abend sitze ich am Ufer des kleinen Sees in Laugar. Es ist still. Aus dem Wasser steigen weisse Nebelschwaden, entern die Wiese, die eben noch in diesem unvergleichlichen hellen isländischen Grün geglänzt hat. Kein Mensch ist zu sehen, kein Auto. Ich bin allein in dieser betörenden Stille. Oder ... – doch nicht? Was war das? Ein Flüstern, ein Wispern fast. Da hinten raschelt etwas. Ich schaue mich um. Hier ist niemand. Wirklich niemand? Magnus’ Stimme ertönt in meinem Ohr: «Es gibt nicht nur die rationale Welt.» Das Wispern wird lauter. Und plötzlich breitet sich eine tiefe Gewissheit aus: Irgendjemand, irgendetwas ist da, fühlbar anwesend. Unsichtbar zwar, aber zu erahnen. Irgendetwas ist mit mir in diesen Tagen auf der Insel passiert. Wo sonst, wenn nicht hier?
Glossar
Huldufólk, auch das verborgene Volk genannt. Sie gleichen den Menschen, leben in grossen Gruppen und sehen aus wie die isländische Bevölkerung vor rund 100 Jahren.
Elfen gibt es in allen Grössen und Typen.
Gnome sind sehr klein und leben in ähnlichen Familienverbänden wie die Menschen.
Zwerge sind von gedrungener Gestalt und so gross wie 3- bis 5-jährige Kinder.
Lichtelfen sind zierlich und ähneln Lieblingen, Engeln und Blumenelfen.
Quelle: Karte der Verborgenen Welten