Estland

Pärnu – Die Oase an der Ostsee

Die Sommerhauptstadt Pärnu hat mit Schlamm Furore gemacht. Heuer feiert der «Kuurort» sein 180-jähriges Bestehen und zählt zu den beliebtesten Feriendestinationen im Baltikum. Zur bewegten Geschichte des Ostseebads gehören ein endloser Strand, ein mysteriöser Elefant – und immer noch Schlamm.

Veröffentlicht: 2018

Franziska Hidber

Redaktorin Nordland-Magazin

Der Norden hat das Herz von Franziska Hidber, Redaktorin und Reporterin des Nordland-Magazins, im Sturm erobert. Über dem Polarkreis fühlt sich die «Lapinhulla» (Lapplandverrückte) schon wie daheim.

So harmlos hatte ich es mir nicht vorgestellt. Eher dreckig und schmierig. Doch jetzt stehen da drei weisse Töpfchen. «Dieses hier ist fürs Gesicht», sagt Marieska und deutet auf das kleinste Gefäss. Zögernd stecke ich den Finger in die dunkle Masse und dann unter die Nase. Sie fühlt sich geschmeidig an, lieblich fast – und nein, sie riecht nicht. Marieska beobachtet mich belustigt: «Es ist wirklich ungefährlich! Ihre Haut wird sich freuen. Und Ihre Muskeln erst! Hier, die Wasserschale nicht vergessen. Sobald der Schlamm eintrocknet, wieder befeuchten.» Danach schwebt sie mit ihren langen blonden Haaren engelsgleich aus der Tür. Ich bin allein mit den drei Töpfchen, der gedämpften Musik, den flackernden Kerzen und meinem Vorhaben, einer Premiere: Schlammsauna.

Entspannungsbarometer: 1 von 10.

Schlammsauna! Was verrückt klingt, hat hier eine lange Tradition und ist so alltäglich wie Zähneputzen. Hier, das ist Pärnu, Estlands Sommerhauptstadt an der südlichen Ostküste, ein «Kuurort» (das Wort stammt – wie die Idee zum Ostseebad – ursprünglich aus Deutschland) seit 180 Jahren. Hier, das ist das Hotel Hedon & Spa direkt an der Bucht, am Ende einer prächtigen Allee, gesäumt von herrschaftlichen Villen, einst die Sommerhäuser reicher Kurgäste. Und hier, das ist ein Stück Geschichte. Denn just an diesem Ort hat Pärnus Berühmtheit vor fast zwei Jahrhunderten begonnen – mit dem wenig prickelnden Namen «Schlamm- und Badeheilanstalt ».

Der Schlamm von Pärnu nämlich, so steht es geschrieben, ist besser als anderswo: mineralstoffreicher, entspannender, entschlackender, wärmender. Kurz: punkto Heilkraft nicht zu übertreffen. Und das sagen ausgerechnet die Esten, punkto Bescheidenheit nicht zu übertreffen. Irgendetwas muss also daran sein, sonst hätte Pärnu nicht diesen steilen Aufstieg als Kurort hinter sich, würde heute keinen erstklassigen Ruf als Wellness-Mekka geniessen, als wichtigstes Seebad an der Küste und eines der beliebtesten Ferienziele im Baltikum.

In Wannen voller Schlamm

Während ich den heilenden Stoff aus der Natur auftrage, stelle ich mir vor, wie die Kurgäste einst in denselben Mauern in ganze Wannen voller Schlamm gestiegen sind – auf dass die Gelenkschmerzen weniger, die Muskeln entspannter, und die Haut besser durchblutet würde. Die Wannen von damals stehen als Erinnerung noch immer im Eingang des Spas, grossformatige Schwarzweissaufnahmen zeigen Köpfe mit Hauben auf den Haaren, die aus der dunklen Masse ragen. In der Sauna wird es warm. Der Schlamm fühlt sich ungewohnt an auf der Haut. In der Sauna wird es wärmer. Der Schlamm trocknet leicht an. In der Sauna wird es heiss, richtig heiss. Der Schlamm dringt in die Poren. Später unter der Dusche lässt er sich erstaunlich leicht abwaschen. Nach 30 Minuten kommt Marieska mit einem wissenden Lächeln auf den Lippen, giesst mir im Ruheraum eine Tasse Kräutertee ein. «Sie werden gut schlafen heute Nacht!», sagt sie mit ihrer sanften Stimme und entschwindet gleich wieder. – Was heisst hier «heute Nacht»? Es ist heiterheller Nachmittag. Nach zwei Minuten schon döse ich weg.

Entspannungsbarometer: 4 von 10.

Der Schlamm von Pärnu ist besser als anderswo.

Der feine Sand umschmeichelt meine Zehen, der Wind fährt in die Haare und ordnet die Frisur neu. Die Wellen haben Ornamente in den Boden gezaubert, akribisch geschwungene Linien. Zwei Möwen halten Zwiesprache, ihre Schatten huschen über die goldgelbe Sandbank, eine weisse Feder liegt einsam da. Ich schlendere dem Wasser entlang. Mit der Hand taste ich über meine Wange: Meine Haut fühlt sich anders an, entspannter. Ruhig ist sie geworden, genau wie ich. Und wie die Stimmung an diesem grossartigen Strand, Pärnus Markenzeichen – fast drei Kilometer lang und bis zu 100 Meter breit. Dort, wo die Wellen kräuselnd an Land kommen, glitzert der nasse Sand in der Abendsonne.

Entspannungsbarometer: 5 von 10.

Das Kindergelächter ist verstummt, der Elefant hat wieder seine Ruhe. Stoisch steht er im Wasser, über ihm die Wolken, der endlos weite Himmel. Woher der Elefant kommt, weiss niemand. Sicher ist: Schon auf seinen Vorgänger sind Generationen von Kindern geklettert, um dann kreischend auf seinem Rüssel ins Wasser zu

Jetzt sind noch die Glücklichen hier, die länger bleiben können.

rutschen. Der Elefant gehört zum Strand von Pärnu, sogar aufs Logo hat er es geschafft. Aber weshalb? Auch das weiss niemand. Selbst Lokalhistoriker und Museumspädagoge Tiit Kask, den ich hier treffe, hat keine schlüssige Antwort zur Hand. «Man munkelt, die Russen, Pärnus Hauptgäste über lange Jahre, wollten mit dem Elefant ihre Begeisterung für Indien ausdrücken», sagt er und lacht: «Vielleicht ist es aber viel profaner. Der Elefant badet gerne – genau wie die Leute, die im Sommer hierher kommen.» Es sind viele, bis zu 400 000 pro Saison, fast zehnmal mehr als das pittoreske Städtchen Einwohner hat.

Ein Strand für alle

Der einheimische Architekt Olev Siinmaa hat dem Kurort nach dem Zweiten Weltkrieg ein neues Gesicht gegeben. Das Strandhotel, das anmutet wie ein Schiff, das Strandcafé mit der futuristisch runden Terrassenplattform tragen seine Handschrift. Und er renovierte das ehemalige Schlammheilbad, heute das Spa im Hotel Hedon. Tiit Kask nennt es «Point Zero» – dort, wo alles begann. Als Estland unter Sowjetischer Herrschaft stand, thronte Stalin in Form einer Statue auf dem Sockel vor dem Haus, als würde er die Kuren persönlich überwachen. Fast ein halbes Jahrhundert galt Pärnu als populäre sowjetische Kur- und Heilstadt. Kommunistische Arbeiter fühlten sich hier wie im Paradies, weit weg vom Alltag. Der Kurort war immer eine Art Mikrokosmos mit eigenen Gesetzen geblieben: während der Sowjetzeit ebenso wie während der beiden Weltkriege. Eine Enklave der Entspannung – damals schon. Mit der Unabhängigkeit 1991 liess Pärnu jeden Hauch von medizinischer Heilstätte weit hinter sich, nannte sich fortan «Sommerhauptstadt » und schaffte den Sprung zum attraktiven Ferienort, ohne das Stadtbild oder den Strand zu verschandeln. «Während der Sowjetjahre lebten wir unter der Glasglocke, niemand wusste, wie denn ein modernes Spa- und Ferienresort heutzutage auszusehen hätte – es gab schlicht keine Vergleichsmöglichkeit», so Tiit Kask. Nach diversen Besuchen anderer Seebäder in England dann die Erleichterung: Man hat ganz vieles ganz richtig gemacht.

Der Kurort war immer eine Art Mikrokosmos mit eigenen Gesetzen geblieben.

Nur etwas gab es bis dato nicht: eine rote Fahne, die vor dem Baden bei Sturm warnte. Also legte Pärnu sich die Fahne zu, entfernte die Stalinstatue, erweiterte das Freizeitangebot und blieb ansonsten, was es seit Jahrzehnten gewesen war: eine wohltuende Oase, die gleichzeitig Kultur, Sportmöglichkeiten und Unterhaltung bietet.

Naturnähe bewahren

Das ist sie heute noch. Ohne ihre Wurzeln zu verleugnen – in Estland haben die Menschen schon immer im Einklang mit der Natur gelebt. Für Tiit Kask ist das ein entscheidender Punkt beim Blick in die Zukunft: «Wir müssen diese Naturnähe bewahren, unser Wissen darüber, was guttut.» Bis jetzt scheint das gelungen zu sein. Schlammanwendungen gehören nach wie vor zum beliebten Spa-Angebot. Ich buche die «Alte Estland-Tour» im Hedon & Spa, erlebe eine belebende Birkensauna und hernach einen Schlammwickel. Mit raschen, geübten Griffen arbeitet die Masseurin den Schlamm in meine Haut ein, wickelt erst Plastik darum, dann warme Tücher. Noch bevor sie mir die Tasse Tee reichen kann, bin ich eingeschlafen.

Entspannungslevel: 10 von 10


5 Höhepunkte

  1. Pärnus Sandstrand: Unendlich viel Platz, traumhafte Stimmungen und freier Zugang für alle.
  2. Schlammwickel im Hedon & Spa: Eine sinnliche Art, sich zu entspannen und die Haut zu beruhigen.
  3. Cappuccino trinken im legendären Strandcafé: In nostalgisch-eleganter Atmosphäre gemütlich auf die Ostsee schauen.
  4. Mit dem Fahrrad auf gut markierten Velowegen durch die Pärke und ins Städtchen radeln.
  5. Der Nizza-Salat, estnisch interpretiert im schnuckeligen Supelsaksad-Café: Frischer Lachs, neue Kartoffeln und knackige Bohnen.
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